Ost-Timor Tag 5, 6, 7 – Feldforschung in Aileu

Merke: dein in Deutschland anerzogener Hang, halbwegs pünktlich zu sein bedeutet hier: „Du idiot, hättest auch noch ne Stunde länger pennen können!“
Wir sind um 7 verabredet, kurz vor 8 fahren wir los, denn heute geht es nach Aileu.
Aileu ist etwa zwei Stunden südlich von der Hauptstadt Dili in den Bergen und sowohl der Name des zweitkleinsten Distrikts in Osttimor als auch der dortigen Stadt die in dichter bevölkerten Orten der Welt kaum als Dorf durchgehen würde.
Unsere Mission? Nun, meine Firma baut ein digitales Bezahlsystem, das speziell für Gegenden konzipiert ist, in denen die Menschen keinen Zugang zum Bankensystem haben und eine Internetverbindung nicht ständig vorhanden ist. Zwar hat Osttimor mittlerweile eine sehr gute Mobilfunk- und Strom-Abdeckung aber Stromausfälle, Regen und so weiter garantieren, dass „ständige Internetverbindung“ ein eher schwieriges Thema ist.
Wir haben das Produkt in einem testbaren Zustand fertiggebaut und uns mit World Vision verpartnert, um gemeinsam ein solches Bezahlsystem für das ganze Land aufzubauen. Derzeit suchen wir nach Finanzierung für das Projekt, sowohl von lokalen Partnern als auch Hilfsorganisationen und vielleicht sogar dem Staat. Aber meine Aufgabe als Produktverantwortlicher ist es nicht, die Verhandlungen zu führen, sondern sicher zu stellen, dass das Projekt vor Ort dann auch verstanden und akzeptiert wird.
Wir haben unseren Prototypen mit einem gewissen Grundverständnis von Gesellschaften in Entwicklungsländern (zum Beispiel eine niedrige Alphabetisierungsrate, niedriger Technologisierungsgrad, schlechte gesundheitliche Versorgung die zum Beispiel zu Augenproblemen bei älteren Menschen führt oder auch dazu dass längst nicht alle, die eine Brille bräuchten, diese auch haben). Aber es ist eben unmöglich ein Produkt zu bauen, wenn man nicht weiss, wo man es zu erst einsetzen will. Wenn ich in Deutschland eine Geschäftsidee habe, dann sind solch Themen wie „Zielgruppe“ ziemlich klar abgrenzbar. Hier ist es halt „Alle Menschen die eigenes Geld haben“. Wenn ich in Deutschland meine Zielgruppe zum Beispiel auf „25-40 jährige Akademiker*innen“ eingegrenzt habe, dann suche ich mir davon einen Haufen zusammen und spreche mit ihnen über Dinge, die für mein Produkt relevant sind, zeige ihnen vielleicht Prototypen im frühen Stadium, beziehe sie im weiteren Verlauf der Entwicklung mit ein und schneidere schließlich ein Marketing-Konzept auf diese Leute zu.
Wir wussten aber nicht, ob unser erstes Projekt in Ost-Timor, auf den Fiji-Inseln oder in Flüchtlingslagern in der Südtürkei sein würde. Oder wo ganz anders. Und so blieben uns eben die Annahmen.
Und eine Reise um die halbe Welt, um jetzt wo wir – funding vorausgesetzt – einen Zielmarkt haben, das Produkt entsprechend anpassen zu können.
Von Dili aus geht es zuerst an den Stadtrand im Westen, wo gerade eine neue Brücke gebaut wird. Wir wissen es nicht genau, aber als 1999 die Indonesische Besatzungsmacht abzog, zerstörte sie so viel Infrastruktur wie ihr noch in die Hände fiel und es ist gut möglich, dass diese Brücke nun zu den „wiederaufbauten“ gehört.
Danach in die Berge. Auf einer Straße, die derzeit (ich weiß nicht wie lange) noch konstruiert wird. Mein Sonnenbverbrannter Rücken vom Sonntag wird zu einem minderschweren Problem, denn „Unbefestigte Straße“ bedeutet Schlaglöcher, riesige Pfützen und die Überquerung von Bächen und Flüssen. Selbst mit einem Allrad-Pickup alles andere als Spaß jedes Mal, wenn ich herumgeworfen werde.

Bild ist eigentlich von der Rückfahrt aber da ist nicht viel Unterschied

Wir passieren einen Wasserfall und mehrere Hütten von den Arbeitern, die quasi ohne schweres Gerät zunächst die Randbefestigung der Straße in Beton gießen.

Wasserfall

Es dauert alles viel zu lange und unser Plan, schon am Morgen mit Interviews zu beginnen schwindet dahin, aber schließlich kommen wir im Feldbüro von World Vision an, werden gebrieft und bekommen frittierte Bananen gereicht.
Inzwischen bin ich froh über alles Essen von Leuten, denen ich vertrauen kann. Die letzten Tage und ein paar Horrorstories über Gesundheit und Lebensmittelsicherheit haben mich ein wenig Paranoid gemacht. Drum bin ich ebenso froh dass wir unser Mittagessen die nächsten Tage von einem sozialen Projekt hier beziehen werden, die lauter jugendliche und junge Erwachsene ausbilden und gemeinsam genähte Dinge (Taschen und so) produzieren und verkaufen.
Wir lassen uns das Projekt von der Leiterin zeigen und es ist beeindruckend, wie sie und ihr Mann (beide Brasilianisch) das mehr oder weniger von null und alleine aufgezogen haben. An eine große Hilfsorganisation sind sie nicht angebunden und mittlerweile versuchen sie, komplett nachhaltig zu wirtschaften.
Wir checken im Hotel ein und fahren über noch mehr unbefestigte Straße und durch einen weiteren Fluss in ein Dorf namens Faheria, wo wir in einem kargen Raum unter Wellblechdach unser Büro für den Tag aufsetzen.

Unser „Bürogebäude“

Das Ziel: Einzelinterviews mit Menschen, die von der Subsistenzlandwirtschaft leben. So wollen wir herausfinden, wie wir Vertrauen in unser System schaffen können, angefangen beim Design der App bis hin zur Vermittlung ihrer Funktionen und dem „ins Boot holen“ der Bevölkerung. Wir beginnen mit einer Reihe von allgemeinen Fragen („Wie heisst du, wie alt bist du, was ist dein Beruf“), einige Fragen zu ihrem Umgang mit Geld („Was ist dein Einkommen, woher bekommst du Geld, für was gibst du Geld aus, für wen bist du finanziell verantwortlich, wem gibst du Geld, hast du ein Bankkonto, wofür nutzt du die Bank“) und schließlich einige Fragen zum Umgang mit Technologie („Was für Technik benutzt du regelmäßig, mit wem kommunizierst du mittels Technik?“)

Interviewsituation

Danach wollen wir den Proband*innen unsere App zum Erforschen in die Hand geben und schließlich herausfinden, wie schwierig es für sie ist, das Konzept von „Smartcard an ein Smartphone halten und damit bezahlen“ zu begreifen.
Das ist alles nicht sonderlich einfach und fängt damit an, dass die Leute hier Tetum sprechen, also eine der Nationalsprachen, und wir alles mittels Übersetzer machen müssen, dessen Englischkenntnisse lediglich „ausreichend“ sind. (Die App hatten wir vorher in Tetum lokalisiert aber auch das war mangels Erfahrung des Übersetzers ein bisschen holprig)
Aber auch die Fragerei selbst kommt so an ihre Grenzen. Unser Eindruck ist, dass es eben ein kulturelles Verständnis für „Marktforschung“ und „Interviews“ geben muss, um sich auf eine solche Situation richtig einzulassen. Die Fragen nach den Lebensumständen lassen sich nur durch zigmaliges Nachfragen befriedigend beantworten („Mit wem lebst du?“ – „Mit meinem Mann“ – „Und habt ihr Kinder?“ – „Ja vier“ – „Ok wie alt sind sie?“ – „3,6 8 und 9“ – „Und wer lebst sonst noch in deinem Haus?“ – „Meine Eltern“ – „Hast du Geschwister?“ – „Ja drei“ – „Und leben die auch noch hier?“ – „Ja die leben auch in unserem Haus“ – „Und haben die Kinder?“…), die Fragen zur Technik scheitern Mangels Verständnis, was ein Smartphone eigentlich ist. Und so fragen wir etwa konkret, ob sie Facebook auf ihrem Telefon nutzen können.
Facebook wiederum hat auch diesen Teil der Welt erwischt. Angeblich 400.000 aktive User bei 1.2 Mio Bevölkerung.
Die Interviews laufen gut. Viel Input, wir stellen fest, dass unsere grundsätzliche Funktionalität nicht in Frage gestellt wird, sehr wohl aber Design-Entscheidungen im Detail und das vor allem implizit, denn für „Warum ist X so und so“ ist man natürlich viel zu weit Weg davon, überhaupt ein Verständnis für den Begriff „Design“ zu haben.
Nebenbei bemerkt: Ja, es ist alles ungefähr genau so wie man es sich auf den Bildern vorstellt. Wir müssen zwischendurch unseren Proviant davor bewahren dass eine Ratte dran knabbert und irgendwann kommt ein Huhn zur Tür reingesprungen.
Eine der Pausen nutzen wir, um frische Mango vom Baum zu pflücken und was soll ich sagen, ich hatte ja schon das, was ich 2014 in Vietnam essen durfte, für das Ende der Fahnenstange gehalten und muss feststellen, dass ich da falsch lag. Zwischen dieser Mango und denen, die es in Deutschland gibt, das kann man nicht mehr „Unterschied“ nennen, das sind zwei verschiedene Welten.

Keine Mango aber hier wächst eine Ananas heran

Zurück zur Arbeit: sechs Interviews an einem Tag sind genug, auch für Jaime unseren Übersetzer und zudem droht Regen und damit Springflut an dem Fluss den wir noch überqueren müssen.

Also zurück ins Hotel, das von einem Chinesen betrieben wird. Ich kann ja viel nachvollziehen hier. Zum Beispiel dass es keine Klimaanlage gibt, oder dass generell alles etwas spartanisch ist (wenn auch gleich in diesem Billig-Luxus-Chic mit gold-bemaltem Plastik). Aber warum die Bettdecke so dick sein muss, dass sie mir selbst in Hamburg zu warm wäre? Wir sind zwar auf 950 Metern, aber…
Immerhin habe ich mit Insektenspray mein Zimmer halbwegs totgekriegt und so lege ich mich nach Abendessen und „Erste Eindrücke an die Kolleg*innen schicken“ ins Bett, nur um von Hundegebell und anderem Lärm wachgehalten zu werden.

Die Nacht ist unruhig weil nicht gerade leise. Wir schlafen zur Hauptstraße hinaus und am nächsten Morgen ist Markt, der mit viel Geschrei beginnt.
Den besuchen wir dann auch nach dem Frühstück um uns anzusehen, wie viele kleine Subsistenzfarmer*innen Gemüse und Obst verkaufen.

Markttag

Manchmal auch Tabak oder Betelnuss, das hier zusammen mit Löschkalk und Senf gekaut wird.

Tabakhändler
Betelnuss-Käuferin

Der Kalk verursacht kleine Wunden im Mund, so dass die Betelnuss besser in die Blutbahn gelangt. Die Droge wirkt leicht euphorisierend sowie betäubend und hilft wohl auch gegen den Hunger. Ausserdem macht sie einen äußerst roten Mund, als ob die Leute einen Lippenstift zerkaut hätten.

Überall auf dem Boden findet man rote Flecken wo das Zeug wieder ausgespuckt wurde.
Tabak wird hier in großen Mengen verkauft, hier und da lebende Tiere (Ziegen und Hühner) und im Inneren des Marketes gibt es Klamotten, die sehr stark nach Kleiderspende aussehen.
Wir schauen uns um, beobachten und fotografieren ein bisschen, die meisten Leute hier freuen sich total, von mir abgelichtet zu werden

und eine Frau fragt nach einem Ausdruck, den ich mangels Zeit leider nicht erstellen kann.
Dann geht es weiter zum nächsten Projekt, auch hier wieder Interviews. Nach einiger Zeit kommen wir zum Schluss, dass nicht mehr viel Erkenntnis gewonnen werden kann. Die Sprachbarriere ist zu hoch, um wirklich tief einzusteigen, oft haben wir das Gefühl, trotz Bitten um Ehrlichkeit nur gesagt zu bekommen, was wir vermeintlich hören wollen und so stellen wir zum Schluss die Interviewsituation noch einmal um und experimentieren mit einem Gruppenszenario. Das hat immerhin zur Folge dass ein alter Mann, ziemlich offensichtlich Kriegsveteran, die ganze Zeit nur fragt, wie wir Raub und Diebstahl verhindern wollen. Er hat wohl einiges mitgemacht.
Der Abend klingt in oben benanntem Projekt aus, beziehungsweise beim Brasilianischen Ehepaar, das das Projekt leitet. Großes Abendessen bei sehr überzeugten Christen zuhause, ein bisschen Diskussion über Religion (ich werde für meinen Atheismus eher bemitleidet) und Tischgebet inklusive. Ist aber alles nett und das Essen ist direkt aus dem Garten und dementsprechend sensationell lecker. Auch die Aussicht von hier ist toll.


Wirklich kurios wird es, als wir zurück kommen. Das Hotel ist im Obergeschoss (siehe Bild), zu dem eine Treppe führt. Die Tür an der Straße ist aber abgeschlossen. Als wir ankommen, guckt ein Mensch (der Betreiber?) aus dem Holzverschlag über der Tür, klettert die Leiter hinunter und balanciert über die Mauer. Springt auf die Treppe, öffnet die Tür von innen und entschwindet über die Leiter in sein Kabuff.

Unser Hotel.

Der nächste Tag ist fast Ereignisarm. Noch zwei Interviews, eine kurze Flußüberquerung auf dem Weg dorthin udn dann kurz Mittagessen bei den Brasilianern und schleunigst zurück nach Dili. Die Straße ist noch matschiger als auf dem Hinweg, aber immerhin haben wir die andere Route nicht genommen, dort stecken mehrere Wagen nach Erdrutsch fest.

Nochmals Flußüberquerung

In Dili dann ein Meeting beim UN-Entwicklungsprojekt, in dem wir gleich ein paar Ergebnisse vorstellen dürfen. Danach: Hotel, ausruhen, früh ins Bett. Ich bin geschafft.