Cucutà ist die wichtigste Stadt an der Grenze von Kolumbien nach Venezuela. Ein Großteil des Handels zwischen den beiden Ländern passiert hier. Oder besser: passierte. Mit der Staatskrise in Venezuela wurden die Grenzen geschlossen, Paramilitärs attackierten humanitäre Hilfskonvois und schossen auf Menschen, die versuchten, über die Grenze zu kommen. Viele der Krisengeschichten aus dem letzten Jahr: Cucutà.
Inzwischen ist die Situation ein wenig anders, und im Rahmen meiner Arbeit bin ich für eine Woche in der Stadt, um Menschen zu interviewen, die gesamte Situation von Flucht, Migration, Hyperinflation und Wirtschaftskrise zu verstehen, und auch die Grenze zu besichtigen.
Wie die politische Situation aussieht, ob Maduro der Teufel ist, für den die meisten ihn hier halten, oder ob die USA an allem schuld sind oder beides, möchte ich nicht beurteilen. Mir geht es um die Beschreibung der Situation.
Die Situation ist überaus komplex aus verschiedenen Gründen:
- Während die Situation für Kolumbien durchaus belastend ist, immerhin sind mehr als eine Millionen Venezolaner im Land, und ein großer Teil davon lebt in Armut, ist die Stimmung mehr freundschaftlich als alles andere. Das liegt auch daran, dass man in Kolumbien nicht vergessen hat, dass es vor 20 Jahren andersherum war. Damals flohen viele Menschen vor Bürgerkrieg und Kartellgewalt nach Venezuela.
- Die wenigsten Venezolaner kommen permanent hierher. Oft versuchen sie einfach ein paar Wochen lang (illegal und völlig unterbezahlt) einen Job zu finden, um dann wieder zurück zu kehren. Oder sie pendeln regelmäßig.
- Diese Menschen werden „Los Pendulares“ genannt. Die Pendler. Viele kommen auch einfach täglich, um Dinge zu kaufen. Da es keinen Autoverkehr gibt, ist der Fußtransport lukrativ.
- Dennoch sind es viele, die ins Land kommen um zu bleiben. Teilweise legal, oft aber illegal. Während der Grenzübertritt ansich kein Problem darstellt, bedarf der permanente Aufenthalt oder gar das Annehmen eines Jobs eines entsprechenden Visums
- Illegal bedeutet in erster Linie „darf nicht arbeiten“. Das führt zu völlig unterbezahlten und gefährlichen Jobs, oder aber zu Bettelei oder gar Kriminalität.
- Hinzu kommen viele „internally displaced“ Leute, also Menschen die innerhalb des Landes Kolumbien fliehen mussten
- Insbesondere gibt es viele Menschen, die seinerzeit nach Venezuela flohen, dort ein Leben aufbauten und nun in der Wirtschaftskrise alles verloren haben und wieder zurückkehren in ein Land, aus dem sie zwar stammen, in dem sie aber weder Sozialversicherungsansprüche noch Vermögen angesammelt haben.
Viele der Geschichten ähneln sich hier. Da ich mit einer humanitären Hilfsorganisation zusammen arbeite, unterhalte ich mich mit jenen, die am verwundbarsten sind. Oft geht ein Familienmitglied vor, lebt zunächst ein paar Tage oder Wochen auf der Straße. Geschichten voller Scham, denn niemand bettelt gerne. Schließlich gelangt man an irgend einen Job, manchmal helfen Kolumbianer vor Ort aus und geben erstmal eine Unterkunft für einige Zeit, bis man im Slum seine eigene Wellblechhütte bauen oder irgendwo etwas günstiges mieten kann. Schließlich kommt der Rest der Familie nach, man lebt von Aushilfsjobs oder Müllsammeln, verkauft Wasser oder Essen auf der Straße, versucht sein Leben wieder aufzubauen.
Die allermeisten Menschen hier kommen aber nur für kurze Zeit. Bis zu 7000 Leute passieren täglich die Grenze. Wer zurück geht, der bringt allerhand Güter mit zurück. In Venezuela ist alles teurer, so denn es überhaupt verfügbar ist. Um die Situation tatsächlich einschätzen zu können, begeben wir uns an einem Nachmittag zur Grenze. Selbige ist seit einigen Monaten wieder geöffnet, allerdings nur für den Fußverkehr. Die Grenze selbst ist die Simon-Bolivar-Brücke, eine 300m lange Brücke über den Tachira-Fluss. Sie verbindet San Antonio del Tachira mit der Kleinstadt La Parada, einem Vorort von Cucutà.
Schon einen knappen Kilometer vor dem Übergang stehen viele Menschen auf der Straße, klopfen an unsere Fensterscheiben. Sie wollen uns bitten, doch einige Güter bis nach Vorne zu transportieren, denn alle, die hier hinüber gehen, nehmen so viel mit wie sie tragen können. Ein ganzer Wirtschaftszweig besteht aus jungen Menschen, die mit Sackkarren helfen, Dinge zur Grenze zu bewegen. Manche fahren auch mit leeren Rollstühlen herum, für all jene, für die es zu beschwerlich ist, zu gehen.
Am Nachmittag gehen etwa zehn mal so viele Menschen in Richtung Venezuela als umgekehrt.
Nach einer kurzen Besichtigung der örtlichen Einrichtungen von Rotem Kreuz, UNHCR, und internationaler Organisation für Migration (IOM) machen wir uns ebenfalls auf den Weg, zumindest so weit es geht.
Die Dinge sind recht einfach für uns, da wir mit einer NGO-Mitarbeiterin unterwegs sind. Ihre braune Weste mit NGO-Logos machen klar, was wir vorhaben. Auch als wir mit dem Taxi bei der Migrationsbehörde parken wollen, ist es nur ein Drei-Satz-Gespräch mit dem diensthabenden Polizisten vor Ort, um die Erlaubnis zu bekommen. Dennoch bin ich etwas nervös als wir uns unter die Menschenmenge begeben.
Wir gehen an Menschen vorbei, die allerlei Dinge transportieren.
Auf der Brücke werden Bustickets verkauft. Nach Caracas, nach Valencia, nach Maracay. Auf der anderen Seite warten die Busse schon, um die Menschen in alle Ecken des Landes zu bringen.
Plötzlich steht ein venezolanischer Grenzbeamter vor mir. Beäugt kritisch meine Kamera, die ich sofort einstecke. Dann drehen wir schnell um. Die Kolumbianischen Beamten auf der anderen Seite prüfen unsere Pässe und teilen uns mit, dass wir gerade offiziell auf venezolanischem Boden waren. Hätte man uns dort festgenommen oder sonst korrupte Dinge versucht, hätten die Kolumbianer uns nicht helfen können.
Wir kehren also zurück. Morgens ist in diese Richtung sehr viel los, jetzt kaum etwas. Dennoch: Was sind wohl die Geschichten derer, die hinübergehen? Wie lange bleiben sie? Woher kommen sie?
Wir kehren zurück. Willkommen in Kolumbien.
Wer hier nur für kurze Zeit ins Land will, geht gerade aus und ist in La Parada. Wer sich als Flüchtling registrieren möchte, eine Arbeitserlaubnis beantragen will, der geht nach rechts, wo das Einwanderungsbüro ist.
Ausserdem an der Seite der Straße: eine große humanitäre Einrichtung. UNHCR und IOM beraten die Menschen bezüglich Einwanderung, eine große Station von Rotem Kreuz und anderen Organisationen geben Medizinische Nothilfe. Heute ist nicht viel los. Doch die Station ist in der Lage, 500 Leute am Tag zu versorgen.
Ein paar Meter weiter warten die ersten Taxis. Für den Weg in die Stadt oder zum nächsten Laden.
Wir gehen zurück zum Parkplatz und trinken noch eine Cola in der örtlichen Behörden-Cafeteria. Die Verkäuferin dort ist ebenfalls Venezolanerin. Sie arbeitet hier, fährt regelmäßig zurück in ihr Heimatland um Geld und Waren mitzubringen. Dank der Schwäche der örtlichen Währung ist der Mindestlohn im Land auf gerade einmal 15 Dollar im Monat gesunken. Nicht einmal ansatzweise genug um zu überleben. Viele Betriebe bezahlen deshalb teilweise in US-Dollar oder kolumbianischen Pesos. Gerade im Gebiet entlang der Grenze ist der Peso das gängige Zahlungsmittel. Dennoch haben in den letzten Jahren fast zehn Prozent der Bevölkerung das Land verlassen.